Doris Reisinger nicht mehr ich Nonne

Wenn ich mir Männer und Frauen in der Bibel anschaue, läuft es immer auf diese ganz einfache Ordnung hinaus: Der Mann kann herrschen, aber er kann sich nicht beherrschen. Jedenfalls nicht, wenn er sich einer Frau gegenübersieht. Die ist automatisch eine Versuchung.

In der Bibel, auch der christlichen Tradition, ist so viel drin, was auch toll ist. So viele Sachen, die wertvoll sind, die schön sind, die mich durchs Leben tragen, die Freude machen. Das Problem ist, dass das immer alte Männer waren, die bestimmten, wie diese Texte gelesen werden sollen und wie das rezipiert werden muss. Die Bibel selbst ist gar nicht so schrecklich und es gibt viele befreiende Geschichten.

Auch über Frauen?
Es gibt Judith, die Holofernes köpft. Und es gibt Paulus, der sagt, zwischen Männern und Frauen ist kein Unterschied. Das Problem ist, dass der gleiche Paulus an anderer Stelle das Gegenteil sagt und dass natürlich eher diese Stelle rezipiert wurde. Mich nervt es immer, wenn die Leute sagen: Das Christentum ist doch die gute Religion, der Islam ist böse!

Die Strukturen sind überall ähnlich, egal ob im Christentum, im Islam, im Buddhismus, Hinduismus oder Judentum.
Es liegt nicht an der Religion oder an den Texten, auf denen Religionsgemeinschaften basieren. Es liegt daran, dass diese Gemeinschaften aus Gesellschaften entstanden sind, in denen nur Männer das Sagen haben. Oft auch reiche, einflussreiche Männer. Es geht ja nicht nur um Mann und Frau, es geht auch um Reiche und Arme. Es geht ganz einfach um Machtstrukturen. Und jeder, der Macht hat, neigt dazu, diese zu zementieren. Religion ist dafür hervorragend geeignet! Ich kann sagen: Gott will halt nicht, dass Frauen Priester werden, da kann ich gar nichts machen!

Quelle: https://www.watson.ch/leben/interview/572835975-30-prozent-aller-nonnen-werden-missbraucht-doris-wagner-war-eine-davon-sie-befreite-sich